Neo-Nazi-Demo mit heftigen Niederschlägen

Nachbetrachtung zu Chemnitz am 8. Februar 2003

Wenn Winter ist im Erzgebirge, dann ist auch Winter, weiss der einheimische Ostdeutsche nur zu gut. Ob nun das, noch immer oder schon wieder?, verrußt erscheinende Chemnitz bereits zum Erzgebirge zu zählen ist, darüber mag man trefflich streiten. Auf alle Fälle war dieser 8. Februar im vormaligen Karl-Marx-Stadt ein Wintertag mit Folgen. Seit dem 7. Februar ist im Chemnitzer Schlossbergmuseum die Ausstellung „Verbrechen der Wehrmacht“ zu sehen. Und wo diese Ausstellung gezeigt wird, ist der so genannte ‚Nationale Widerstand‘ nicht weit, um gegen diesen vermeintlichen ‚Schandbilderzirkus‘ mobil zu machen. CHRISTIAN WORCH rief nach Chemnitz auf und einige Fußvölkische versauten sich den Samstag. Denn es war Winter.

Der Nazi-Marsch sollte ursprünglich 12 Uhr am Chemnitzer, so bezeichneten, Hauptbahnhof beginnen. Da war WORCH allerdings noch auf der Autobahn bei Frankenberg in Stauunbilden festgesetzt. Die Kameratten vor Ort behalfen sich derweil mit durchaus ausgiebigem Genuss alkoholischer Getränke im Bahnhofsgebäude und verschlimmbesserten ihr eh schon desolates Erscheinungsbild nicht unwesentlich. In der Stadt Chemnitz demonstrierten zu dieser Zeit mehr als 5.000 Menschen gegen den zu erwartenden Nazi-Aufzug. Nicht unmaßgeblich wurde die bürgerlich-zivilcouragierte Demonstration im Schwerpunkt durch eine fast zeitgleiche Antifa-Demo mehr als nur angereichert. Nach der Abschlusskundgebung zog ein Großteil der Teilnehmer in Richtung Bahnhof und blockierte die bis dahin mögliche Nazi-Route auf der Kreuzung Bahnhofstraße/Carolastraße vollständig. Teilweise wurde auch der zweitmögliche Marschweg der Nazis an der Kreuzung Georgstraße/Straße der Nationen besetzt. Die Zeit ging dahin, die Blockade stand, WORCH steckte weiter im Stau, der braungraue Mercedes QLB-FB 12 lieferte aus seinem Verpflegungsanhänger QLB-D 184 ‚Doitschländer Würstchen‘ und Heißgetränke, und es war Winter. Die Kameratten wurden zunehmend trunkenunruhiger. Gegen 13.30 Uhr erfolgte, ähnlich den Gepflogenheiten bei WORCH-Aufmärschen in Leipzig, die freundliche Durchsage der Bahn, Demonstrationsteilnehmer mögen sich doch bitte 14.30 Uhr am Versammlungsort einfinden. Angemeldet und genehmigt war der Nazi-Aufzug ursprünglich von 12 bis 18 Uhr. Dann traf WORCH, roter VW HH RJ 22 57, letztendlich doch noch ein. Nach zweimaligem Verlesen der üblichen Versammlungsbehördenauflagen, garniert vom ebenfalls üblichen doitsch-pseudohumoristischen Schreigeschwafel WORCHs, setzten sich die anwesenden zirka 500 Jung- und Altnazis, dem Augenschein nach durchwachsen hooliganlastig, letztendlich gegen 15.15 Uhr hinter dem bekannten ‚Anti-Anti-Wehrmachtsaustellung‘-Fronttransparent in Bewegung.

Im Demonstrationszug vertreten waren unter anderen „BF-Dortmund“, „Kameradschaft Saarlautern“, Kameraden aus dem Raum Frankfurt/Main und Sachsen-Anhalt, „Kameradschaft Northeim“, „Nationaler Beobachter Halle“ sowie einzeln bekannte Regional-Nazi-Kader. SVEN LIEBICH durfte wieder mal das Mikro halten und ALEXANDER KLEBER, Aktivist für den jährlichen Nazi-Aufzug am 13. Februar in Dresden, klammerte sich am Ende des Zuges an ein Transparent von „Freie Kräfte Mitteldeutschland“. Der Marschweg über die Carolastraße war für die Nazis völlig versperrt, die Antifa-Blockade Georgstraße/Straße der Nationen von der Polizei kreuzungsfrei knapp zur Seite abgedrängt. Die teilweise völlige Planlosigkeit der Polizei zeigte hier an dem gar netten Auftritt eines Antifas, der sich, von der Polizei wohl lange Zeit für einen eigenen Zivil-Kollegen gehalten, dem anrückenden Nazi-Mob mitten im Kreuzungsbereich gut inszeniert entgegen stellen konnte. Ein verspätet anreisender Trupp von zirka 50 Nazis wurde im Kreuzungsbereich ohne jegliche Vorkontrollen durch die Polizei in den Nazi-Haufen geschleust. Was dann folgte, haben selbst aufmerksame Beobachterinnen und Berichterstatterinnen bei Nazi-Demonstrationen so lange nicht erlebt: Nach Überqueren der Kreuzung wurde der Nazi-Aufmarsch aus dem angrenzenden Park, Dank der längeren Wartezeit wohl vorbereitet, fast vollständig mit Schnee-, Eis- und anderen Wurfgeschossen zudeckt. Ein regelrechter Hagelsturm wirbelte langanhaltend auf die völlig irritierten Doitschmarschierer hernieder, mehr als mehrere Dutzend wirkungsvolle Treffer, Zick-Zack laufende Nazis, Auflösungserscheinungen im Frontbereich des Nazipulks, und der Himmel wollte nicht heller werden.
Wahrlich keine froidvolle Viertelstunde für die ungebetenen Gäste, dafür um so deutlichsichtbar wirksamer. Deprimierte Stalingrad-Anbeter-Gesichter in der Nazi-Runde. WORCH entglitt später bei seiner Abschlussrede vorm Bahnhof gar verräterisch nachwirkend die Formulierung, man habe hier „unter dem Hagel der Geschosse“ gestanden, sich aber trotzdem besonnen verhalten. Kurz danach monierte die Versammlungsbehörde das, nach ihrer Auffassung als strafbare Handlung bewertete, Intonieren der Parole „Ruhm und Ehre der deutschen Wehrmacht“ und stoppte den teilweise noch immer unter massivem Bewurf stehenden Nazimarsch. WORCH vergewaltigte daraufhin fast das Mikrofon und gab der Versammlungsbehörde „exakt vier Minuten“ Bedenkzeit, ihre Entscheidung zu revidieren. Ansonsten, drohte WORCH, werde er den Aufmarsch an Ort und Stelle für beendet erklären und, die nach seinen Worten „500 bis 700 Kameraden“, in die Stadt entlassen. Bei „Störtebeker-Netz“ schreibt WORCH mittlerweile dahingehend von einer ‚Sieben-Minuten-Reaktion‘ der Stadt und betreibt im Nachgang auch noch kleinere Zahlenklamaukspielchen: „(…) Eine Schätzung auf 800 bis 850 (…) erscheint mir ein wenig unseriös. (…)“ Der augenscheinlich und sowieso völlig überforderte Vertreter der städtischen Versammlungsbehörde genehmigte letztendlich zuvorkommend zeitnah eine Weiterführung der Demonstration sowie die Verwendung der vorher als kritisch erachteten Losung. Aber da war ja noch die lautstarke und wurfkräftige Antifa-Begleitung. An der Ecke Georgstraße/Mühlenstraße schlug den Nazis erneut Widerstand entgegen. Mittlerweile hatte sich die Polizei ein wenig besser in ihre bisher peilungslose Lage gefunden und ging hier, sowie folgend, teilweise massiv und in der Wahl ihrer Mittel völlig überzogen gegen Antifaschistinnen vor.

Unverständlicherweise bedankte sich nach Passieren der Kreuzung Georgstraße/Mühlenstraße der Sprecher des bürgerlichen Bündnisses gegen den Nazi-Aufmarsch für das Erscheinen und erklärte damit wohl aus seiner Warte den zivilcouragierten Widerstand ab 15.50 Uhr für beendet. Aber es war ja auch noch Winter in Chemnitz. Am Zöllnerplatz zelebrierten die Nazis unter völliger Abwesenheit der ihrer Meinung nach aufzurüttelnden Volksmassen eine Zwischenkundgebung, die WORCH mit „aus der Mitte der Gesellschaft, für die Mitte der Gesellschaft“ einleitete. Die Polizei erteilte derweil im weiten Umfeld vorsorglich und großzügig Platzverweise für alle und alles, was nicht nach Nazi ausschaute. Wie schon in Leipzig durfte auch in Chemnitz Kameradin IVONNE aus Thüringen sprechen und ihre zartbesaitete braune Seele nach außen baumeln lassen. Irgendwie fühle sie sich wie ein Vorreiter, für irgendwas, erklärte sie den Nazis im Rund.
Beeindruckend. GERD ITTNER aus Nürnberg, sichtlich von einer Erkältung geschwächt und für seinen selbstlosen persönlichen Einsatz von WORCH mehrmals belobigt, palaverte über die „antideutsche Mafia“, die USA, Israel, den Irak, und wenn er so weiter gemacht hätte, bestimmt auch noch über Aldi. Kamerad GERD, seine Erkältung bald vergessend, plärrte selbstherrlich vom Krieg, der Deutschland damals aufgezwungen worden wäre und der seitens der Wehrmacht und der Waffen-SS niemals ein Angriffskrieg gewesen sei. Und natürlich stehe das deutsche Volk zu seinen Helden von Wehrmacht und Waffen-SS. Nur waren eben nicht sehr viele da, um dort mit ihm stehend zu frieren. Dann ging es zurück zum Bahnhofsvorplatz, vorbei an der noch immer teilblockierten und lautstark besetzten Kreuzung Straße der Nationen/Georgstraße. Allerdings beliebte es der Polizei bei Anrücken des Nazimarschs unvermittelt den Antifa-Lautsprecherwagen zu bedrängen, um dort unter Anwesenheit zweier PDS-Landtagsabgeordneter die Kabel zu kappen!
Auch die Kreuzung unmittelbar am Bahnhofsvorplatz war mittlerweile wieder von Antifas besetzt, von der Polizei massiv in Richtung Nazipulk abgeschirmt.
Am Bahnhof angekommen zogen es etliche Nazis vor, ins Bahnhofsinnere beziehungsweise an den doitschnationalen Würstchenstand zu desertieren, statt ergriffen WORCHs verquaster Sicht der Dinge zu lauschen. „… Reichstreue!“, begann dieser dann markig, „Ihr seid die neue Wehrmacht!“ Auf einmal war Ruhe war um WORCH. Keine Hand rührte sich, kein Beifall. Weil sein Ansinnen scheinbar niemand so recht verstanden oder gar begriffen hatte, versuchte WORCH, es den noch anwesenden Fußvölkischen zu erklären. Und dann wurde, später, auch geklatscht. WORCH plauderte noch ein wenig über seine scheinbar schlaflosen Nächte und seine Sorgen um das zu befürchtende Verschwinden des deutschen Volkes aus der Weltgeschichte, so quasi das von im unterstellte Endziel all seiner Gegner, also fast aller. Natürlich durfte auch die Großwetterlage in seinen Heldenausführungen nicht fehlen, als der Russe angriff und es bei minus 40 Grad schneite, damals vor Stalingrad. Und weil es damals so kalt war und es ja sowieso dauernd schneit, vor allem bei minus 40 Grad Celsius, versuchte WORCH seiner ergriffenen Gemeinde gleich noch ein paar „Anti-Anti-Wehrmachtsaustellungstour“-Leibchen zum Preis einer freiwilligen Spende von 10 Euro zu verticken. Mit der gebrüllten Aufforderung, „als neue deutsche Wehrmacht für das Reich!, für das Reich!, für das Reich!, für das Reich! einzutreten“, war WORCH dann irgendwann nach 17 Uhr irgendwie am Ende. Und es war noch immer Winter in Chemnitz.

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